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Wanderschaft

"Wie weit kann zu weit gehen gehen?"

"Es war die schönste Zeit in meinem Leben", "Wir haben uns durchgeschlagen und kaputt gelacht", "Keine Sekunde habe ich es bereut, auf die Walz gegangen zu sein." Äusserungen wie diese finden sich in fast allen Reisebeschreibungen ehemaliger Wandergsellen.
Seltsam. Mehr als ein Drittel aller "Gereisten" bricht die Arbeit im erlernten Beruf nach der Wanderzeit ab, vielen gelingt der Wiedereinstieg in das normale Alltagsleben nur mühsam, einigen gar nicht.
Wanderschaft, "auf der Walz", da blitzen doch Assoziationen auf wie Sonnenuntergang und Lagerfeuer, fröhliche, braungebrannte Burschen auf einsamen Landstrassen zwischen rauschenden Wäldern und wogenden Kornfeldern.
Was rüttelt so an der Psyche gestandener Bauarbeiter? Was führt zu solchen Krisen?

Geschichte:

Seit dem Hochmittelalter wandern Gesellen durch Deutschland und Europa.
Keine Wirtschaftskrise, sondern Wohlstand lösst das Gesellenwandern aus: Das starke Bevölkerungswachstum im 11. Jahrhundert führt zu einem Überschuss hochqualifizierter Lehrlinge.
Vor die Alternative gestellt, im heimischen Meisterbetrieb unterbezahlt alt zu werden oder sein Glück in der Fremde zu suchen, entscheiden sich viele ausgelernte Handwerksgesellen für letzteres.
Sie gehen auf Wanderschaft. Freiwillig.
Die ersten erhaltenen Dokumente zum Gesellenwandern (das früheste stammt aus dem Jahr 1375) belegen allerdings, dass zu diesem Zeitpunkt die Wanderschaft für fast alle Handwerksgesellen fast aller Gewerke bereits zur Pflicht geworden war. Meister durfte nur noch werden, wer nach der Lehre eine mehrjährige Wanderzeit nachweisen konnte.
Aber das System kippte. Um sich zukünftige Konkurrenten vom Leib zu halten, dehnten die in den Zünften zusammengeschlossenen Meister die Reisezeiten mehr und mehr aus. Auf zuerst drei, dann fünf, dann gar sieben und mehr Jahre.
Die Wandergesellen gerieten in einen ersten Konflikt mit den Zünften und damit der "Obrigkeit".
Ein Spannungsverhältnis das sich unter wechselnden Motiven und Gegnerschaften bis in das 20 Jahrhundert fortsetzt.
Mit Einführung der Gewerbefreiheit, der Abschaffung der Zünfte und der einsetzenden Industralisierung im 18 und 19 Jahrhundert nimmt das Gesellenwandern in Europa rapide ab. Keine reisenden Handwerker, sondern fest an die Firma gebundene Fabrikarbeiter wurden gesucht.

Zuletzt wandern nur noch die am stärksten ortswechsel- und witterungsabhängingen Gesellen der Baugewerke.
Schon um 1900 ist die "Tippelei" mehr ein Motiv für Genremaler als gelebte, notwendige Realität. Erst die Krisenjahre 1920-33 und die einhergehende Lebensreform und Wandervogelbewegung führen zu einem echten Comeback des Gesellenwanderns.
Eine starke linke Politisierung, zeichnet die Gesellen jener Jahre aus.
Die Parteizugehörigkeit in KPD und SPD kommt häufig vor, die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft ist Pflicht. Mit der Machtübernnahme der Nationalsozialisten endet das kurze Comeback. Etliche Wandergesellen bezahlen jetzt ihren anarchisch-freiheitlichen Lebensstil mit Arbeitslager und KZ. Nicht wenige werden ermordet. Sie sind Vorbilder geworden, in deren Fussstapfen viele der heutigen Gesellen und Gesellinnen wandern.

Regeln:

So viele gibt es, dass unruhige Gesellen schon Monate vor ihrer Wanderschaft gewissenhaft mit dem Auswendiglernen beginnen.
Wie betritt ein Wandergeselle eine Kneipe? Wie spricht man um Arbeit vor? Wie wird ein Reisebündel geschnürt und was gehört hinein? Was bedeutet "Stiefel schmoren", "ausflaggen", "abpriemen"?
Sechs Gesellenbruderschaften (Zusammenschlüsse wandernder Gesellen) exsistieren in Deutschland. Alle haben eigene Regeln, Riten, Umgangsformen, Traditionen. Aber es gibt Grundbergriffe der Wanderschaft, die von allen Reisenden oder "Fremden", wie sie sich selber bezeichnen, ge- und beachtet werden:
Auf Wanderschaft gehen darf jeder ausgelernte Handwerksgeselle. Hauptsächlich aber die Baugewerke (Zimmerleute, Maurer, Tischler, Steinmetze, Betonbauer). Er (oder sie) muss ledig, schuldenfrei, unter 30 Jahre alt und ohne Vorstrafen sein.
Die geforderte Wanderzeit variiert zwischen mindestens zwei und höchstens drei Jahren und einem Tag. Über diesen Zeitrahmen hinaus als Wandergeselle "auf der Strasse" zu sein ist zwar erlaubt, wird aber von den meiseten Gesellenbruderschaften nicht gern gesehen. Zu gross ist die Angst vor der "Verpennerung" eines zu lange auf der Walz Verbleibenden.
Während der Wanderzeit darf sich ein Geselle nur bis auf 50 Kilometer seinem Heimatort nähern.
Der gesamte persönliche Besitz wird in dem von den Gesellen fast zärtlich "Charlie" genannten Reisebündel und in ihrer streng festgelegten Kleidung, der Kluft, mitgeführt. Das Wanderbuch, ein paar Kleidungsstücke, etwas zu lesen, Landkarten, vielleicht noch eine Taschenuhr, etwas Briefpapier, sonst nichts.
Handys sind verboten.
Alle wichtigen Entscheidungen, besonders über die Aufnahme neuer Mitgleider in die Bruderschaft, wird auf dem "Handwerkssaal" getroffen.

Die Inhalte der auf diesen Treffen (Reisender und ehemals gereister Wandergesellen) geführten Diskussionen sind geheim.
Und tatsächlich ist kein Wort davon ist je nach aussen gedrungen. Selbst im Internet-Zeitalter nicht.

Sprache:

"Und wer mit Dir keinen Stiefel schmoren will, der gehört ausgeflaggt!" Das ist ein Kompliment. Festus macht es seiner grossen Liebe, der Steinmetzgesellin Leila im Film "Für den unbekannten Hund". Er spricht Gesellensprache. Für uns "Kuhköppe" (Gesellensprache für: Alle, die nicht auf der Walz waren) völlig unverständlich. "Stiefel", "ausgeflaggt", das klingt nicht gerade nach charmantem Kompliment.
Das Rotwelsch der Diebe und Landstreicher und das Jiddische sind die beiden Haupteinflüsse der Gesellensprache. Wer über 500 Jahre lang seit an seit mit den "Randständigen" der Gesellschaft auf der Strasse unterwegs ist, der wird, ob er will order nicht, Teile ihrer Sprache übernehmen.
So ist die Kommunikation unter den Wandergesellen voller längst versunkener Begriffe und Redewendungen. Ob Jiddisches wie "Tippelschickse" (sehr kurzzeitige weibliche Begleitung eines Wandergesellen) oder Rotwelsches wie "Zinken" (Markierung an Haustüren, ob man dort betteln kann oder nicht), die Gesellensprache kann zur echten Geheimsparche werden, wenn ein Geselle sie gut beherrscht.
Hier einige der gängigsten Begriffe der Gesellensprache im Schnelldurchlauf:

  • "Tippelei: Wanderschaft zu Fuss.
  • "Schacht": Gesellenbruderschaft.
  • "Fremder": Zünftig reisender Geselle.
  • "Kulft": Kleidung der Wandernden.
  • "Fechten": Betteln.
  • "Einheimisch werden": Die Wanderschaft traditionell beenden,
  • "Platte reissen": Unterkunft suchen, übernachten.
  • "Stenz": Wanderstock.
  • "Schallern": Zünftig singen.
  • "Schietendick": schwer betrunken.

Nicht alles was "geschnackt" wird, sollen die umstehenden Kuhköppe auch mitbekommen. Und so wird niemand auf dem Open-Air-Konzert (Filmszene im "Unbekannten Hund") merken, dass die junge Frau hinter dem Tresen gerade vom Gesellen Festus angeflirtet wird. Festus schützt sich und sie durch die Gesellensprache.
Die Herkunft dieser Wörter und ihre Urheber mag von vielen Gesellen längst vergessen sein, eines jedoch ist geblieben: Eine Grundsympathie für die Randständigen unserer Gesellschaft, seien es "Ausländer", Stadtstreicher oder Punks.

Ach ja, "Wer mit Dir keinen Stiefel schmoren will, der gehört ausgeflaggt" heisst: "Wer mit Dir kein bestimmtes, zünftiges Trinkritual ausführen will, der gehört aus der Gesellenbruderschaft ausgeschlossen". Da klingt die Gesellensprache doch charmanter als Hochdeutsch, oder?

Frauen:

Ein heikles Thema. Für einige sehr traditionell reisende, männliche Gesellen.
Vier der sechs Gesellenbruderschaften erwandert keine Frauen. Sie werden nicht aufgenommen. Aus Prinzip nicht. Trotz Gleichheitsgrundsatz, EU-Recht, UN-Charta usw, usw.
Warum Frauen nicht wandern dürfen sollen bleibt allerdings unklar. Sie durften es Jahrhunderte lang. Erst im patriarchialischen 19ten Jahrhd., im "Vaterland", gaben sich die Schächte Satzungen, die Frauen von der zünftigen Wanderschaft ausschlossen. Und so ist es geblieben, bis 1982.
Da entschieden sich einige mutige Gesellen der alten HERRlichkeit Adieu zu sagen und gründeten den ersten Schacht, der auch Frauen traditionell reisen lässt: "Axt & Kelle". 1986 folge der "Freie Begegnungsschacht". Beide erwandern ausserdem deutlich mehr Gewerke, als ausschliesslich die "Leute vom Bau".

Wanderschaft 2007:

Circa 500-600 deutsche, österreichische und schweizer Gesellen und Gesellinnen sind zur Zeit auf Wanderschaft. Knapp 95% von ihnen stammen aus den Baugewerken, aber auch Gärtner, Klempner, Goldschmiede und echte "Exoten" wie Geigenbauer und Schneiderinnen finden sich unter ihnen.
Ausser in den genannnten Ländern gibt es die traditionelle Wanderschaft im Bauhandwerk auch in Frankreich und Dänemark. Dort wird aber ohne die "pittoreske" Kluft und unter anderem Reglement getippelt.
Nahezu alle deutschen Wandergesellen sind gewerkschaftlich organisiert.
Die vielen Regeln werden durch jede Generation der Wandernden immer wieder neu hinterfragt, interpretiert, angewendet. Grenzen neu definiert und verschoben.
Der Frage "Wie weit kann das Zu-Weit-Gehen gehen?", "wie gestalte ich die grosse Freiheit, die mir die Wanderschaft bietet?" eine persönliche Antwort abzuringen ist die kraftzehrenste Erfahrung aller Wandergesellen.
500-600 junge Menschen zwischen 19-29 Jahren nehmen es im Jahr 2007 auf sich, drei Jahre lang ohne Handy, ohne Laptop, ohne Wohnung, ohne Auto, zu Fuss oder per Anhalter durch Deutschland, Europa und der Welt zu reisen, zu sehen, zu arbeiten, zu lernen und zu staunen.
Die Energieleistung fast jeden Tag an einem anderen Ort, unter unbekannten Menschen zu sein, ohne die Gewissheit wo ich schlafe, wo ich morgen arbeiten werde ist enorm. In keiner anderen Gesellschaftsgruppe findet man eine höhere zeitliche Dichte aus wechselnden Erfahrungen, persönlichen Eindrücken und Begegenungen als unter den Wandergesellen.
Darum spielt unser Film "Für den unbekannten Hund" in der Lebenswirklichkeit dieser Menschen. Nur dort kann der jugendliche Mörder Bastian in so kurzer Zeit so intensive Lebenserfahrungen sammeln, dass er sich glaubwürdig verändern, glaubwürdig seine Schuld erkennen und glaubwürdig nach einem Weg der Sühne suchen kann.

Kein Geselle, keine Gesellin kehrt nach dieser jahrelangen Achterbahnfahrt aus positiven und negativen Erfahrungen unverändert nach Hause zurück.
Den Heimkehrenden sind schnelle Urteile über alles "fremde" zuwider, das Gerede der alten Kumpel, die so sicher zu wissen glauben, "wie es draussen in der Welt aussieht" entlockt ihnen nur noch ein müdes Lächeln.
Vielleicht ist das ein Grund, warum vielen Wandergesellen das Zurückkommen in die normale, bürgerlich Welt mit ihren normalen, bürgerlichen Werten und Wertvorstellungen so schwer fällt.
Warum einige den Schritt zurück dann gar nicht mehr schaffen oder schaffen wollen.
Vielleicht auch ein Grund, warum sich fast ausschliesslich "lustige" und dadurch harmlose Berichte über die Walz in der Literatur finden.
Über Grenzerfahrungen zu sprechen fällt schwer.
Bei unserer Recherche zum Film "Für den unbekannten Hund" konnten wir unter den Autobiographien ehemals gewanderter Gesellen nur eine finden, die sich dem Versuch, Wanderschaft mittels einer Aneinanderreihung humoriger Anekdoten zu beschreiben widersetzt. Der Titel der Biographie ist programmatisch:
"Aus der Art geschlagen".